Grobi war zur Inspektion. Grobi, das ist unser erster Firmenwagen – Neuwagen mit Herstellergarantie, daher fiel die Wahl auf die Vertragswerkstatt. Und Vertragswerkstätte wiederum sind diese Apotheken, in denen es nach Öl, Benzin und Lack riecht, anstatt nach Hustensaft und Desinfektionsmittel.
Als ich mit zitternden Händen nicht nur Wagenpapiere und Schlüssel, sondern auch die Rechnung entgegennahm, konnte ich nicht umhin, meinem Erstaunen in innerer, respektvoller Verneigung und durch meinen heruntergeklappten Unterkiefer Ausdruck zu verleihen und fühlte mich für eine Weile zurückversetzt in die 1980er, als der WDR noch wöchentlich die wunderbare Sendung „1000 Meisterwerke“ ausstrahlte….(Anm. d. Red.: die im nachfolgenden Artikel genannten Namen sind frei erfunden. Evtl. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen und/oder Firmen sind rein zufällig.)
1000 Meisterwerke: „Die Inspektionsrechnung“,
Autohaus Frickel, 2019, Filzschreiber auf Altöl, DINA4
„Die Wirklichkeit interessiert mich nicht“, sagte einmal Hans-Dieter Frickel zu einem erzürnten Kunden. „Für mich zählt nur, was wahr sein könnte.“
Für die Plausibilität dieser Selbsteinschätzung spricht Frickels Inspektionsrechnung, wohl eines der erschütternsten Werke der Moderne. Dabei ist Frickel in bestechender Simplifizierung gelungen, woran sich von Dali bis Piccasso eine ganze Künstlergeneration versucht hat: die Darstellung der Zeit.
Der unerbittlich verrinnenden, unwiederbringlichen Arbeitszeit, die in der Schlichtheit und Monotonie unseres täglichen Schaffens immer schneller vorbeirasen möchte und gleichsam zur unbezahlbaren Kostbarkeit wird:
Reifendruck – teilweise geprüft 2 Stunden
In strenger Linienführung und sparsamer Farbgebung führt Frickel unser subjektives Zeitgefühl ad absurdum:
Radmuttern – entgratet und überzahnt 4 ½ Stunden
Bremsscheiben – poliert und gefettet 3 Stunden
oder auch
Fußmatte – aufgerauht und auf korrekten Sitz überprüft 7 Stunden
Der kargen, robusten Zeitsäule stellt der Künstler immer aufs Neue fragile Brechungen gegenüber. Rätselhafte Kleinteile, wie „Kupplungsriebel“, „Zündluschen“ und „Hartgummignöbel“ leiten uns im spielerischen Dissens zu endlosen Zahlenkolonnen am rechten Bildrand.
Frickel will anklagen. Und seine Mahnung trifft. Ist es doch nicht nur die Zeit, sondern auch das uns fremdartige Ausfüllen dieser Zeit mit skurrilem Tun. Wir müssen inne halten und uns Fragen stellen: Was verbirgt sich hinter stundenlangem Umbuchten und Plönieren einer Gelenkwelle oder dem Entlöten einer Manschettennippelschelle gemäß Herstellerempfehlungen in 4 ½ Stunden?
Frickels Inspektionsrechnung hinterlässt uns einsam und ratsuchend. Seine Provokation gelingt.
Der Auftraggeberin dieser Grafik, einer einstmals ausreichend gut situierten Selbständigen aus dem Hessischen, brachte das Werk nur wenig Glück. Sie musste nach Begleichen der Rechnung ihre Wohnung aufgeben und lebt heute in nachhaltigem Misstrauen gegenüber Vertragswerkstätten zurückgezogen in ihrem frisch inspizierten Automobil.