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Berater-Tagebuch | Episode 4: Über Rollenbeschreibungen in Projektanfragen

„Es ist soooo schwer, die richtigen Leute zu finden.“ Diesen Satz höre ich immer wieder. Mit Blick auf die üblichen Rollenbeschreibungen zu Agile Coaches oder Projektleiter*innen in Projektenanfragen wundert mich die Aussage nicht.

DIE SACHE MIT DER EXPERTISE

Als Agile Coach und Projektmanagerin erhalte ich über verschiedene Personaldienstleister, Projektplattformen und Business-Netzwerke regelmäßig Projektanfragen. Dabei wird – wie schon vor 20 Jahren – häufig nach der gern zitierten „eierlegenden Wollmilchsau“ gesucht: zu besetzen ist da beispielsweise die Rolle eines Agile Coaches mit Erfahrungen in Projektmanagement, Prozessdesign, Compliance, Releasemanagement, Management-Reporting und Kenntnissen in drölfundzwölfzig Programmiersprachen, IT-Systemen und deren Architekturen. Und: mit fundiertem Branchen-Knowhow.

Bei solchen Anfragen frage ich mich: und was ist mit Skills in Origami und Kurzgebratenem?

Bitte nicht falsch verstehen: ich finde es gut, wenn ein Unternehmen als externe Unterstützung nur den oder die „Beste“ will. Nur: worin denn jetzt genau?

Seitdem ich 1999 meine Laufbahn als Projektmanagerin, Business Analystin, Changemanagerin und ab 2011 als Agile Coach begann, bilde ich mich regelmäßig in genau diesen Themen weiter und baue meine Expertise durch Erfahrungen aus.

Ich habe mittlerweile mehr als 30 Projekte erfolgreich begleitet – etwa die Hälfte davon waren große IT-Projekte. Programmiersprachen kann ich bis heute nicht, war auch nie notwendig. Und meine Basis-Kenntnisse zu System-Architekturen wachsen mit jedem neuen Kunden (seit kurzem weiß ich zum Beispiel, dass es Json gibt und Kafka – hab die beiden Herren aber noch nie persönlich kennengelernt). Das finde ich spannend – und es macht mich noch lange nicht zur IT-Spezialistin. In meiner Welt auch völlig okay, wenn ich als Projektmanagerin oder Agile Coach gebucht bin und nicht als Programmiererin oder System-Architektin.

Was mich für meinen Job qualifiziert ist eine klare Kommunikation, mein theoretisches und praktisches Wissen über agile, kausale und systemische Methoden und Tools, meine Erfahrung im Umgang mit Team-Dynamiken (und mein Verständnis dafür), meine Wahrnehmung für Prozess- und Verhaltensmuster, meine pragmatische Lösungsorientierung, meine Freude daran, mit anderen Menschen etwas Neues zu erschaffen und mein Spaß an Weiterentwicklung und kontinuierlicher Verbesserung. Also ein gewisser Weitblick, der es mir ermöglicht, Gesamtzusammenhänge zu begreifen und flexibel auf unterschiedliche Situationen zu reagieren. Und nicht zuletzt: meine über 20 Jahre Projekterfahrung.

Technisch gesehen ist es für mich und die von mir begleiteten Projekte in der Regel hilfreich, wenn ich mich zügig in Projekt-Software, wie Jira, ALMOctane oder SAP einarbeiten kann und weiß, wie ich mich auf einem Sharepoint oder in Confluence zurechtfinde. Excel, Powerpoint, Outlook und seit einigen Jahren Zoom, Teams, Miro und Conceptboard sind eher die IT-Tools, mit denen ich persönlich direkt konfrontiert bin.

Code Reviews durchführen oder selbst programmieren musste ich in 52 Jahren noch nicht. Zum Glück hatte ich dafür immer Projektmitglieder, die darin Expert*innen sind.

Wozu ist es also wichtig, dass ich mich damit auskenne? Genau. Ist es nicht.

Die Sache mit der Expertise

Cartoon: Kai Flemming

ANFORDERUNG NACH BRANCHEN-KNOWHOW

Ich bin ausgebildete Bankkauffrau und Dipl.-Ing. für Landschaftsplanung – und bis heute ohne Informatik Ausbildung. Zu meinen Kunden in den vergangenen 20 Jahren gehörten mehrere Finanzdienstleister, Energiedienstleister, ein Unternehmen mit Produktion, Groß- und Einzelhandel für Luxusartikel, eine staatliche Behörde, ein Maschinenbauunternehmen, ein Hoch- und Tiefbauunternehmen, mehrere IT-Dienstleister, eine Online-Plattform, ein großer Verein für Gesundheitssport und Sportmedizin, diverse Esports Teams, ein Medizintechnik-Startup, ein Pharmaunternehmen, eine große Arztpraxis und zwei internationale Organisationen für Entwicklung und Zertifizierung technischer Standards. Ich kann also sicher behaupten, dass meine Branchen-Kenntnis im Vorfeld zum jeweiligen Projekt in sehr vielen Fällen nicht über ein gesundes Allgemeinwissen und meine Recherche zu meinem Kunden hinausging. Und trotzdem liefen und laufen die Projekte allesamt erfolgreich.

Allerdings habe ich – erst neulich wieder im Gespräch mit einem Mitarbeiter eines großen Personaldienstleisters – gelernt, dass meine eigene Erfahrung nicht repräsentativ sei. Also habe ich mal nachgefragt. Bei anderen Dienstleistern, die in meinen Augen Experten auf ihrem Gebiet sind. Ich habe sie gefragt, welchen Einfluss Ihr Knowhow über die Branche ihrer Kunden auf die Qualität ihrer Leistung hat und ob sie bestimmte Branchen aus Kenntnismangel gänzlich ausschließen.

Nehmen wir beispielsweise meinen Zahnarzt. Mein Zahnarzt ist der Beste. Für mich zumindest. Denn bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich eine sehr lange, traumatische Zahnarzthistorie mit zahlreichen Feld- und Fehlversuchen. Bei ihm bin ich nun schon seit 2009 in Behandlung und gehe sogar gerne und freiwillig mehrmals im Jahr zur Vorsorge. Wie er das geschafft hat? Nun, zum einen ist er ein wirklich sehr guter Arzt, der meiner Meinung nach nicht nur medizinisch sehr viel Ahnung hat, sondern es auch jedes Mal schafft, auf mich und meine ganz individuellen Bedürfnisse einzugehen. Er atmet mit mir gemeinsam meine Angst weg, bevor er mir eine Spritze gibt. Er berät mich ausgiebig, zeigt mir verschiedene Alternativen auf und bezieht mich in die Entscheidung ein, bevor er draufloswurschtelt. Und er behandelt nur das, was wirklich behandelt werden muss. Mit anderen Worten: mein Zahnarzt hat es geschafft, mein Vertrauen zu gewinnen. Denn ich bin überzeugt davon, dass er wirklich mein Bestes im Sinn hat. Das alles macht für mich seine Expertise aus.

Mein Zahnarzt also zeigte sich auf meine Frage, ob sein Knowhow über die Branche seiner Kunden einen Einfluss auf die Behandlung habe, gleichsam irritiert wie amüsiert. Und er fand die Vorstellung verstörend, eine Wurzelbehandlung für…sagen wir mal…den Filialleiter des Supermarkts gegenüber oder die Fachverkäuferin in der Kaffeerösterei im Erdgeschoss abzulehnen, weil er selbst mit den Prozessen und Herausforderungen in der Lebensmittelbranche, im Einzelhandel und in der Gastronomie nicht ausreichend vertraut ist.

Spoiler alert: Die Antworten der weiteren Teilnehmer meiner kleinen Umfrage (aka ein Heizungsinstallateur, der Maler meines Vertrauens, mein Automechaniker, meine Chiropraktikerin, ein befreundeter Architekt und meine Steuerberaterin) fielen ähnlich aus. Und auch mein Friseur versicherte mir, dass es keinen Einfluss auf die Qualität meiner Strähnen hätte, wenn ich die Branche wechseln würde.

BEST PRACTICES

Wenn ich also als Agile Coach für ein Projekt angefragt werde, stelle ich in Bezug auf Programmiersprachen-Kenntnis und Branchen-Knowhow immer meine Lieblingsfrage: „Wozu genau ist das wichtig?“.

Den Ansatz „wir wollen jemand mit Best-Practice-Erfahrung“ kann ich beruhigen: ein guter, erfahrener Agile Coach bringt genau die mit. Und zwar für genau das, was seine Aufgabe ist: agile Teams coachen und die agile Transformation im Unternehmen unterstützen.

Auch ein professioneller Projektmanager wird in meiner Welt in jeder Branche einen guten Job machen. Denn: ein Projekt ist ein Projekt ist ein Projekt (genau wie eine Zahnwurzel) und: das macht er oder sie schließlich hauptberuflich. Das Branchen-Knowhow ist in der Regel bei den Mitarbeitenden im Unternehmen selbst ausreichend verfügbar.

MEIN TIPP…

…geht daher an alle, die hauptberuflich für Rollenausschreibungen und Projektanfragen zuständig sind: Um die richtige Besetzung zu finden ist es hilfreich, sich selbst im Vorfeld mit der wirklich wichtigen Expertise auseinanderzusetzen und zu den relevanten Best Practices zu informieren. 80% der Aufgaben eines Projektmanagers und eines Agile Coaches bestehen aus Kommunikation. Dabei helfen Skills, wie Belastbarkeit, Menschenkenntnis, mentale Flexibilität, Methodenerfahrung, ein Blick für Gesamtzusammenhänge und ein Gespür dafür, die richtigen Fragen zu stellen, zuzuhören und pragmatische, transparente Empfehlungen zu formulieren.

Nach meiner Expertise werden sich auf solche Anfragen mehr von „den richtigen Leuten“ melden.

Und vielleicht fehlt mir ja dazu einfach das richtige Branchen-Knowhow.

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